Die Drei-Säulen-Strategie der Nachhaltigkeit

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wie kaum ein Ereignis der vergangenen Jahre hat die Covid-19-Pandemie als Katalysator für weltweite, gesellschaftliche und technologische Makrotrends gewirkt – auch und gerade im Tourismus. Die beschleunigte Digitalisierung von Kommunikations- und Informationsprozessen gilt als Paradebeispiel. Aber mindestens ebenso wichtig ist das große Themen- und Handlungsfeld der Nachhaltigkeit. Dieses umfasst dezidiert nicht nur Belange des Klima- und Umweltschutzes, wie die Dekarbonisierung des Mobilitätssektors oder die Optimierung des Recycling- und Waste-Managements, sondern auch – gleichrangig – soziokulturelle Aspekte der wirtschaftlichen Prosperität und Inklusion sowie der Barrierefreiheit. Nachhaltigkeit ist eine ökonomische, ökologische und soziale Balance, die kontinuierlich neu austariert werden muss.

Die Reisewelt post-Corona wird stärker denn je im Zeichen nachhaltiger Entwicklungen und eines Innovationsdrucks gesellschaftlicher und ökologischer Verantwortung stehen. Für den Incomingtourismus ist dies eine ebenso große Herausforderung wie Chance.

Mit der sukzessiven Verfügbarkeit von Corona-Impfstoffen zeichnet sich endlich eine klare Perspektive für das Reiseland Deutschland ab. Auch wenn kurz- bis mittelfristig weiterhin Geduld gefragt ist, ist dies Anlass für Optimismus. Ich möchte diesen Anlass nutzen, um in der ersten Ausgabe meines Blogs im Jahr 2021 gemeinsam mit Ihnen einen Blick nach vorn zu werfen: Wie verändert sich der Tourismus mit und nach Corona unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit? Der Nachhaltigkeitsdiskurs im deutschen Tourismus ist vital wie nie – auch dank inspirierter Debattenbeiträge wie dem Impulse4Travel-Manifest, welches neue Wege aufzeigt, wie der Tourismus post-Corona unseren Lebensraum weiterhin positiv, inklusiv und innovativ gestalten kann.

Bereits viele Jahre beschäftigen sich mein Team und ich mit Nachhaltigkeit in all ihren ökologischen und sozialen Facetten. In der DZT ist Nachhaltigkeit seit über einer Dekade ein zentrales Querschnittsthema und wird in allen Unternehmensbereichen strategisch ressortübergreifend bearbeitet. Dabei folgen wir einer Drei-Säulen-Strategie, die den externen Wissenstransfer und einen korrespondierenden Kommunikationsansatz mit unserer organisationsinternen Nachhaltigkeitsinitiative koppelt.

Nachhaltigkeit ist in meinen Augen die conditio sine qua non für den Tourismus der Zukunft. Dazu möchte ich Ihnen 7 Thesen vorstellen:

1. Globaler Megatrend Nachhaltigkeit wird zum Booster für den Tourismus

Die Balance aus Ökonomie, Ökologie und sozialer Verantwortung ist in vielen Weltregionen der gesellschaftliche Megatrend. Skandinavien spielte dabei eine Vorreiterrolle, aber auch in Schwellenländern wächst das Bewusstsein für Nachhaltigkeit.

Längst haben Graswurzelbewegungen wie ‚Fridays for Future‘ die Weltbühne der Politik erreicht. Corona hat diese Entwicklung nicht verdrängt, sondern noch verstärkt. So erklärte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres kürzlich bei einem Vortrag an der New Yorker Columbia-Universität zum Thema Klimaschutz: „Unser Planet ist kaputt!“ Aber der Weg aus der Corona-Krise biete eine Chance. „Die Corona-Erholung und die Reparatur des Planeten können zwei Seiten derselben Medaille sein.“

Auch die UNWTO hat im Zuge der Corona-Krise ihren wachstumsorientierten Fokus ausdrücklich um eine ‚Built Back Better‘-Strategie erweitert. In der Publikation ‘One Planet Vision for a Responsible Recovery of the Tourism Sector’ heißt es: „Der Tourismussektor verzeichnete im letzten Jahrzehnt kontinuierlich Wachstum, verbunden mit bedeutenden Vorteilen in Bezug auf die sozioökonomische Entwicklung und Beschäftigung, die jetzt auf dem Spiel stehen. Gleichzeitig stellte ein solches Wachstum bedeutende Herausforderungen in Bezug auf die Tragfähigkeit von Reisezielen, den Verbrauch natürlicher Ressourcen und Auswirkungen auf den Klimawandel. […] Die Behandlung all dieser Fragen muss das Herzstück einer verantwortungsvollen Erholung des Tourismussektors sein, denn die Widerstandsfähigkeit des Tourismus wird von der Fähigkeit der Branche abhängen, die Bedürfnisse der Menschen, des Planeten und Wohlstand in eine Balance zu bringen.“

Die Publikation finden Sie hier.

Die Vereinten Nationen haben sich bei der Klimakonferenz 2015 in Paris erstmals auf einen gemeinsamen Kodex geeinigt. Die 17 Sustainable Development Goals (SDGs) mit ihren insgesamt 169 Unterzielen bieten seitdem eine detaillierte Orientierungshilfe auf dem Weg zu einer nachhaltig lebenswerten Zukunft.

2. Deutschland hat Top-Werte im SDG-Index

Bereits heute sind wir in diesem Kontext sehr gut aufgestellt. Das belegt der gerade im Sustainable Development Report 2020 veröffentlichte SDG-Index, der die Fortschritte von einzelnen Ländern bei der Erreichung der SDGs dokumentiert. Darin belegt Deutschland den 5. Platz im Vergleich von 166 Ländern und konnte sich somit um einen Platz gegenüber dem Vorjahr verbessern.

Eine detailliertere Betrachtung der 17 SDGs und der Einzelergebnisse in ihren 169 Unterzielen für die europäischen Länder im Europe Sustainable Development Report 2020 zeigt, dass Deutschland nicht nur gute Ratings erzielt, sondern auch in den Trends außerordentlich gut performt.

Neben der faktenbasierten Positionierung ist auch das Image Deutschlands unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ausgezeichnet: Laut Anholt Ipsos Nation Brands Index 2020, der Ende Oktober veröffentlicht wurde, zählt das Thema Schutz von Umwelt und natürlichen Ressourcen zu den Top World Issues. Deutschland wurde von den Umfrageteilnehmern am häufigsten als die Nation genannt, die im Umgang mit der Bedrohung durch den Klimawandel bei einer Betrachtung über die nächsten fünf Jahre am besten agieren würde.

3. Nachhaltige Technologien prägen touristische Entwicklung

Alternative Energieträger sind längst kein Nischenprodukt mehr. Vor allem die Mobilitätsanbieter – eine der zentralen Säulen des Tourismus – setzen auf ökologische Innovationen. Bisher galt der Satz eines früheren Lufthansa-Managers: „Der letzte Tropfen Kerosin auf dieser Welt wird im Triebwerk eines Flugzeuges verbrannt.“ Airbus-CEO Guillaume Faury hat unlängst angekündigt, sein Unternehmen werde als erster Hersteller bis 2035 einen wasserstoffgetriebenen Passagierjet mit einer Reichweite von 3.500 Kilometern in Betrieb nehmen.

Bahnkunden fahren inzwischen auf ICE- und IC-Strecken in Deutschland zu 100% mit Ökostrom, bis 2030 sollen insgesamt 80% des Strombedarfes im Konzern aus regenerativen Quellen kommen. Mit Siemens Mobility entwickelt die DB wasserstoffbetriebene Brennstoffzellenzüge, die ab 2024 erprobt und in der Perspektive auf den nicht elektrifizierten Strecken die dort noch eingesetzten Diesellokomotiven ersetzen sollen.

Der Bussektor kann schon heute mit Treibhausgasemissionen von 31 Gramm pro Personenkilometer eines der emissionsärmsten Reiseverkehrsmittel für sich reklamieren. Die aggregierten Umweltkosten des Reisebusses, die neben CO2-Emissionen auch Bau, Wartung, Entsorgung und die Bereitstellung von Kraftstoffen umfassen, sind nicht zuletzt dank kontinuierlicher Innovation konkurrenzlos niedrig.

Aber auch jenseits der Mobilitätslösungen helfen innovative Technologien, den Tourismus nachhaltiger zu machen, seien es KI-gestützte Anwendungen zur Lenkung und Entzerrung von Besucherströmen oder die Weiterentwicklung digitaler Destinationen mit neuen Dimensionen beim Besuchererlebnis.

4. Nachhaltigkeit bedeutet Qualitätsgewinn

Die Entwicklung nachhaltiger Angebote erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit dem Produkt. Wie entsteht es, welchen Impact für die Umwelt induziert es in allen Wertschöpfungsstufen, welche Veränderungen im Kundenerlebnis folgen daraus?

Die zentrale Einsicht besteht darin, dass nachhaltiger Konsum kein Dogma des Verzichts bedeutet oder auf Kundenseite die Bereitschaft erfordert, bei Qualität und Erlebnis Abstriche zu machen. Im Gegenteil: Nachhaltigkeit ist ein Qualitätsmerkmal und ein Wettbewerbsvorteil, weil sie unmittelbar die Lebensqualität der Menschen steigert – von Einheimischen und Gästen gleichermaßen.

Das Ziel einer nachhaltigen touristischen Entwicklung, welche die Bewahrung natürlicher und kultureller Lebensräume ebenso umfasst wie eine inklusive Gestaltung touristischer Wertschöpfung, ist ein Kernelement des Eckpunktepapiers zur Nationalen Tourismusstrategie der Bundesregierung.

Tausende Unterkünfte, Gastronomiebetriebe, Freizeiteinrichtungen und auch Tourismusorganisationen in ganz Deutschland haben diesen Grundsatz bereits erkannt und der Erkenntnis Taten folgen lassen, indem sie nachhaltiges Wirtschaften zum Prinzip ihrer Arbeit erhoben haben.

Zertifizierungen sind ein klares Signal, dass es diese Unternehmer ernst meinen mit ihrem Engagement für Nachhaltigkeit. Und sie geben dem Kunden Orientierung in der Vielfalt der Angebote.

Denn auch der Reisende, der nicht ausdrücklich klimaneutrale Angebote oder umweltgerechte Produkte sucht, genießt die Qualität einer regionalen und saisonalen Küche, weiß einen individuellen persönlichen Service zu schätzen, lässt sich von intakten Naturlandschaften beeindrucken, spürt Achtsamkeit und Werthaltigkeit.

Das Reiseland Deutschland hat von all dem viel zu bieten. Unsere Chancen in der post-Corona-Zeit sehe ich im qualitativen Wachstum mit nachhaltigen Angeboten.

5. Corona schärft Bewusstsein für Nachhaltigkeit im Tourismus

Mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat sich der Wertewandel zu mehr sozioökologischer Verantwortung im Reiseverhalten signifikant beschleunigt. Das bestätigen uns potenzielle Deutschlandreisende aus unseren wichtigsten Quellmärkten. Laut einer aktuellen IPK-Studie im Auftrag der DZT glauben 80% aller Befragten, dass Covid-19 zu mehr Nachhaltigkeit im Tourismus führt.

Gestaffelt nach Altersgruppen stellen wir fest, dass diese Einstellung bei den Reisenden bis 54 Jahre am stärksten ausgeprägt ist.

Beim Impact der Corona-Pandemie auf den Klimawandel zeigt sich ein ähnliches Bild. Allen voran glauben Menschen in China, Japan und den USA, dass die Corona-Pandemie dazu beitragen kann, den Klimawandel zu reduzieren.

Das bestätigt unsere Strategie, die hohe Glaubwürdigkeit, die wir mit Deutschlands Vorreiterrolle bei Energiewende, ökologischer Zertifizierung und Naturschutz seit langem genießen, weiterhin gezielt in der DZT-Markensteuerung und -Kommunikation zu implementieren und verstärkt als Wettbewerbsvorteil der Destination Deutschland zu kommunizieren.

6. Nachhaltigkeit weckt Chancen für Marktsegmente

Das Interesse an naturnahem Urlaub ist signifikant gestiegen. 55% der internationalen Kunden sind generell der Meinung, dass naturorientierte Urlaubsarten für sie in Frage kämen. Das gilt vor Allem für Gäste aus unseren Anrainerstaaten. Weitere 21% haben coronabedingt derzeit Interesse an Natururlaub, hier erzielen Touristen aus den Überseemärkten China und USA überdurchschnittliche Werte

Auch, wenn Städte und Kultur die Motivation für Deutschlandreisen bisher am stärksten geprägt haben: Wir wissen um die Vielfalt und Qualität unserer Angebote für Aktivurlaub, unsere einmaligen und intakten Naturlandschaften, die vielen ‚Hidden Destinations‘. Etwa jede fünfte Übernachtung internationaler Gäste wurde in den vergangenen Jahren in ländlichen Regionen registriert. Im Rahmen unserer Recovery-Strategie sehe ich gute Chancen, das steigende Interesse an nachhaltigem Reisen mit der Förderung des ländlichen Raumes zu verknüpfen, um dessen Topographie zu erhalten und zugleich städtische Ballungsräume zu entzerren.

Auch im Bereich des Städtetourismus existieren Wachstumspotenziale durch die Kombination von Angeboten: einerseits durch Ansätze, aus den Metropolen heraus das grüne Umland in die Vermarktung mit einzubeziehen; andererseits durch ÖPNV-Angebote an Landurlauber, die Interesse an einem kurzen Abstecher in die Großstadt haben. Inspiration für Städtetrips mit alternativen Erlebnissen bietet unsere Städtekampagne ‚German Summer Cities reloaded‘.

Barrierefreiheit ist in diesem Kontext ein entscheidendes Element eines nachhaltigen – weil inklusiven – Tourismus. Viele öffentliche Verkehrsmittel in Deutschland, die dazugehörende Infrastruktur sowie die Kommunikations- und Buchungsprozesse sind bereits durchgehend für eine barrierefreie Nutzung ausgelegt. Dank des Kennzeichnungssystems „Reisen für Alle“, eines vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten Projekts des Deutschen Seminars für Tourismus (DSFT), können Menschen mit Behinderung inzwischen verlässliche Informationen zu Destinationen und Anbietern abrufen und das Reiseland Deutschland in all seinen Facetten erleben.

7. Nachhaltigkeit ist Zukunft

Das ambitionierte Ziel, Nachhaltigkeit konsequent und mit weltweitem Pionier-Anspruch umzusetzen, erfordert eine echte Kraftanstrengung von uns allen. Nutzen wir die Zäsur der Pandemie, um uns weiter zu entwickeln und den neu entstandenen Innovationsraum zu nutzen.

Die Corona-Pandemie hat viele Verhaltensweisen und Geschäftsmodelle, die bisher als unantastbar galten, außer Kraft gesetzt. Die erzwungene Entschleunigung hat Raum geschaffen für Innovation und längst überfällige Grundsatzüberlegungen. Das betrifft ausdrücklich auch den Tourismus.

Innerhalb eines knappen Jahres hat das SARS Cov2-Virus unsere Branche grundlegend verändert - mit Reisebeschränkungen, zeitweise komplettem Stillstand, Abstands- und Hygieneregeln, neuen Geschäftsmodellen. Aber es gibt Zuversicht, dass wir den Tourismus in einer neuen Qualität wiederbeleben. Nachhaltigkeit ist ein, möglicherweise der Schlüssel dazu.

Dabei besteht kein inhärenter Widerspruch zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum. Die Selbstverpflichtung auf hohe Umwelt- und Sozialstandards und das Bekenntnis zur Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen sind in einer Zeit sich fundamental wandelnder Kundenpräferenzen eine echte Wachstumschance für Industrie und Handel. Wenn wir uns als Wirtschaftsstandort auf diese Nachfrage einlassen, dann können wir unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht nur halten, sondern ausbauen.

Deutschland hat als Land der Energiewende, der Nationalen Klimainitiative und einer seit Jahrzehnten beispiellosen Natur- und Umweltschutzkultur, die fest auf nationaler, föderaler und kommunaler Ebene verankert ist, bereits viel auf diesem Handlungsfeld erreicht – und das als Industrienation und viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Deshalb sollte die enorm gesteigerte Bedeutung der Nachhaltigkeit im Tourismus für uns kein Anlass zur Sorge, sondern zur Zuversicht sein.

In diesem Blog durfte ich den Um- und Aufbruch im Corona-Jahr 2020 durch persönliche Ansichten und Erkenntnisse begleiten. Für die vielen positiven Reaktionen möchte ich mich heute sehr herzlich bedanken. Auch im neuen Jahr freue ich mich auf den Austausch mit Ihnen über dieses Medium.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen Kraft und Zuversicht für das beginnende Jahr. Bleiben Sie gesund!

Herzlich

Ihre Petra Hedorfer